Restaurants

La Vie, Osnabrück

Der Schreck fährt den Düsseldorfern in die Glieder. Am Ziel der Karnevalsflucht herrscht ebenfalls närrisches Treiben. In Osnabrück begeht man den Ossensamstag. In der Altstadt ist unweit des Restaurant La Vie gegenüber des Rathauses eine Bühne aufgebaut und es läuft die Musik, die so mit diesem Feste einhergeht – also nichts mit Westfälischem Frieden.

Auf Rambazamba hatte die Abteilung Reservierung gar nicht verwiesen. Brauchte sie auch nicht, denn die dicken Wände und zusätzlich schallisolierten Fenster im Haus Tenge, einem klassizistischen Wohn- und Geschäftshaus, halten dicht, so dass das muntere Treiben nicht die Konzentration stört.

Das Restaurant ist an diesem Samstag voll und die erste Etage, mit ihren Séparées und Salons wird mitbenutzt. Das bestens besuchte Haus ist vielleicht einer der Gründe, warum sich der Start vom Platznehmen bis zum ersten Gang ein wenig zu lange hinzieht. Die Zeit lässt sich aber nutzen, um darüber zu sinnieren, warum bisher – abgesehen von zwei Festivalauftritten – die Küche des 54-Jährigen Westfalen für mich unbekanntes Terrain ist. Dabei kochte Thomas Bühner, der seine prägenden Jahre bei deutschen Klassikern wie Günter Scherrer, Heinz O. Wehmann, Jörg Müller und Harald Wohlfahrt durchlief, jahrelang erfolgreich in der Spielbank Hohensyburg im mit zwei Michelinsternen ausgezeichneten La Table im unmittelbaren Dunstkreis der Adoleszenz des Verfassers im Ruhrgebiet. Im Jahre 2006 folgte er dem Ruf von Unternehmer Jürgen Großmann, der mit der Sanierung der Georgsmarienhütte für Furore und Reichtum gesorgt hatte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Wunsch, bei Thomas Bühner zu essen durch eine äußerst sympathische Dokumentation im WDR-Fernsehen über den Umzug mit nahezu dem gesamten Team an die neue Wirkungsstätte nach Osnabrück  geweckt worden.

Bis dahin sollte aber noch einige Zeit vergehen, in der mir die ehemalige Sommelière Susanne Spies an ihrer jetzigen Wirkungsstätte im Restaurant Rosin begegnete und Bühners ehemaliger, äußerst sympathischer Souschef Suvad Memovic mit dem zusammen mit seinem Bruder Adnan geführten Restaurant Impression kurzzeitig Hoffnung machte, dass in meiner Geburtsstadt Recklinghausen kulinarisch doch noch nicht alles verloren sei. Und dann übernahm Jürgen Grossmann auch noch das Arosa Kulm Hotel, als sein von einer Familienholding geführte Lieblings-Luxushotel in den Graubündner Bergen an Investoren veräußerst zu werden drohte – auch ich verbrachte dort unzählige Familienurlaube: erst als Kind gelangweilt und später gerne in der Ruhe und Höhe, während jetzt der Schweizer Franken dem Ganzen einen Strich durch die Kalkulation macht.

Warum also kein La Vie-Besuch bisher? Nun, nie lag die niedersächsische Stadt, die sich auch jetzt beim Besuch auf den ersten, flüchtigen Blick nicht als Schönheit zeigt, auf dem Weg – ein schwaches Argument, da das La Vie in einer Liga spielt, die explizit Reisen für einen Restaurantbesuch nahelegt. Und eigentlich lockt(e) das Restaurant immer wieder mit günstig kalkulierten Angeboten, die ungewöhnlich für diese Klasse erscheinen. So war auch jetzt neben der natürlich vorhandenen kulinarischen Neugierde eine nette Aktion die Initialzündung für den Besuch: Erst “My perfect Storm” über René Redzepi und das Noma im Kino schauen und dann auf vier Gänge bei Thomas Bühner einkehren.

Dabei will ich nicht verhehlen, dass ich mich dem Restaurant mit einer gewissen Skepsis nähere. Denn bei aller Vorfreude und grundsätzlichen positiven Erwartungshaltung hatten mich die Bilder komplexer, opulenter Teller mit Gels und Variationen ein wenig wenig vom Besuch abgehalten. Und Bildern kann man ja im Internet heutzutage kaum mehr aus dem Weg gehen, leider.

Gleich zu Beginn ist äußerste Konzentration gefordert. Der Snack zum Aperitif entpuppt sich als Mini-Tea Time: einem Oolong mit  Nori-Alge und Walnuss, der entzückend und ungewöhnlich wie eine neue Dashi-Variante schmeckt, bei der die Nuss sich in den nussigen Noten des Tees wiederfindet und hochfeiner, subtiler und dezenter Gänseleber mit Mohn sowie Dorade mit kohligem Blatt und Zitrone  – mehr Andeutung und Genussversprechen.

Dagegen lässt das ähnlich fein gearbeitete Amuse-gueule aus Ziegenmilch mit intensiver, pastöser Anchovicrème, fermentierter Minze und Olivenöl schon mehr aufhorchen, weil sich hier gleich eine ganze spannende Geschmackswelt auftut.Natürlich wurde es am Tisch dann doch das “Le Grand Chef”-Menü und nicht das “Tradition & Qualité”, das mit Wagyu japanisch 30 Tage dry aged, Salat, Kabeljau-Consommé startet. Auf einem pochierten, ungemein zartem Stück Kabeljau liegen die dünnen Scheiben Japan-Rind. Diese sorgen nur für minimal mehr Kauwiderstand als das feine Fischfleisch und fügen leichten animalischen Schmelz hinzu. Die elegante, aber prägnante Consommé ist lauwarm, zitronig und von fischig-intensivem (Stockfisch)Geschmack. Getoppt wird das Ganze von einem herben, aetherischen Wildkräutersalat, der einen Tick kleiner gezupft sein könnte. Das Gericht hat etwas Japanisches und dann doch wieder etwas völlig Neues, auf jeden Fall ungeheure Balance und Spannung zugleich. Seinem Status entsprechend ist das vielbeachtete Edelfleisch hier japanisch dünn gehalten und nicht als Angeber-Portion mit Grillaromen verschenkt und ist eher gleichgeschaltete Zutat denn Protagonist. Die dazu servierte Foccacia ist großartig und bleibt auf dem Tisch stehen, wobei nicht ganz klar ist, ob und welchen Zusammenhang sie mit diesem Gang hatBei Red Gamba, Mandarinen-Sojabutter, Zitronenthymian ist das Fleisch der Roten Riesengarnele ganz knapp gegart und hat knackig pur gerade über die Grenze zu schleimig-roh passiert. Zu dem süßlichen und aromatischen Fleisch gesellen sich kongenial die vorzügliche Butter, die Jodigkeit einer Herzmuschel und Scheiben von Karotte und Kohl. Das ist eine Paarung an Aromen und Texturen erster Güte, die, wenn ein Schluck des zuvor nicht besonders faszinierenden 2014 Riesling “Eroica”, Chateau Ste. Michelle &Dr. Loosen, Washington hinzukommt, für einen kurzen Moment für die Ewigkeit geschaffen zu sein scheint. Ein Paradebeispiel an Flavour Pairing!

Eine wesentlich deftigere, dabei weiterhin sehr transparente Richtung schlägt die Küche bei Octopus, Wildschwein-Emulsion, Kimchi und Rosenkohl ein. Asiatische Aromen und Naturbelassenheit treffen auf deutsche Deftigkeit, wobei gerade in der vorzüglichen Wildschweinemulsion der Geschmack mit der Essenz aus Schwarte, Schmornoten – also allem, was man beim Schwein so schätzt –  nur so kracht. Aufgelockert wird das Ganze durch marinierte Apfelscheibchen und die Rosenkohlblätter. Für leichte Irritation am Tisch sorgt der Pulpo, der sehr knapp gegart und fast glasig ist und so eine ungewohnte Textur aufweist und nicht seinen charakteristischen Geschmack entfalten konnte. Eventuell ist dieses Mundgefühl explizit Teil des Plans, der ansonsten aufgeht.

Nach dieser Reihe an avantgardistischen Petitessen kommt bei Périgord Trüffel, Mountain Yam, Flusskrebs, Bellota ham, Ei so etwas wie klassische Wohlfühlstimmung am Tisch auf. Wohldosiert allerdings, denn der Klassiker wurde für’s Jetzt neu aufgezäumt und passt so stilistisch in den Reigen zuvor. Das ist äußerst stimmig und geschickt angelegt, so dass der Geschmack klar und die Spannung erhalten bleibt. Erst einmal ist Yams eine spannende Alternative zu Kartoffeln, wobei der Geschmack in Richtung Süßkartoffel, hier auch Pommes frites, geht und der Biss gröber, stückig ist. Das Ganze wirkt wie eine Aufschichtung an Mundgefühl und Aromen mit der Süße und dem Biss der knackigen Flusskrebs-Stücke, dem intensiven Schmelz des Schinkens, der leicht cremige Salzigkeit des gebeizten und geräucherten Eigelbs und dem Wohlgeschmack eines Pilzsuds und der erwähnten Yamswurzel; zusammengehalten von der wohlvertrauten Erdigkeit der Edelknolle. Eines der besten Kaviar-Gerichte und ein Highlight meiner Ess-Karriere schlechthin ist Caviar impérial, Süßkartoffel. Es wirkt beinahe absurd, denn da stehen zwei Mini-Schüsselchen und man gerät in Verzückung. Wenig überraschend ist der Kaviar von außerordentlich guter Qualität: mild gesalzen, klar im Geschmack und mit feiner, zart platzender Körnung. Was dann aber im Zusammenspiel mit dem geräucherten Oktopus-Fond, der Ei-Süßkartoffel-Emulsion und Maronen-Einlage passiert, ist sensationell. Der Kaviar-Geschmack wird auf ein unbekanntes aromatisches Niveau getriggert, das gleichzeitig neu und schlüssig wirkt. Dazu ist dies eine der elegantesten Demonstrationen des Geschmacks umami. Food und – weil auch noch der hervorragend passende 2012 Silvaner Brut, Weingut May, Franken hinzukommt – Flavour Pairing at its best: genial einfach, einfach genial!
Auster (Gillardeau), Kalbsbries, Portulak, Austernsauce stellt jodigen Noten eine grün-grasige Aromen gegenüber. Der dickblättrige Portulak wirkt in diesem Zusammenhang wie ein salziges Strandgewächs. Eine Assoziation, die sich aus dem Zitrus-Säure-Spiel nährt, das an Sergio Herman denken lässt. Etwas versteckt befindet sich auf dem Teller eine naturbelassene rohe Auster, die als Gewürz fungiert. Für diese Funktion braucht es einen leicht festeren, etwas deftigeren Counterpart, der sich in der auffallend schonend und ohne besondere Röstnoten zubereiteten Wachstumsdrüse findet. Hinzu kommt noch Biss durch Rübchen und Knollenziest. So wird hier die Süffigkeit, die oftmals mit weich-süßlichem Bries-Gerichten einhergeht und der einschmeichelnden, kräftigen Austernsauce, durch die Jodigkeit und Vegetabilität kontrastiert. Auf vermeintliche Simplizität ist Étouffée Taube, Wacholderrauch, karamellisierter Kürbissaft herunter gebrochen. Im Mittelpunkt stehen verschiedene, punktgenau gegarte Stücke der gereiften Bluttaube mit nicht zu krosser Haut und ihrer besonderen Fleischstruktur. Das durch das Blut im Körper der durch Erdrosseln getöteten Taube spezielle Aroma wird durch die dezente Rauchnote angenehm unterstützt. Daran dockt die Mischung aus melasseartige Saft und Tauben-Jus als Saucenalternative an und verleiht dem Gericht nur eine minimale Süße, der die jungen Spitzen Löwenzahn gegenüberstehen. So behutsam eingerahmt  bleibt dem Fleisch ganz und gar die Bühne überlassen.Le Phébus, Pinienkerne, Kaki, Sojasauce ist der Käsegang um den aus den französischen Pyrenäen stammenden Käse. Das klingt erst einmal abwegig, doch werden die floralen und nussigen Noten des cremigen Käses von der marinierten Frucht und den Piniensamen als Eis aufgenommen, während die Reifenoten des schon recht scharfen Milchproduktes blendend mit 20 Jahre gereiften Sojasauce harmonieren. Erneut ist es der Wein, hier der 2006 Gewürztraminer Grand Cru “Steingrubler”, Mann, Elsass, der den Gang zusätzlich ungemein bereichert. Neues Gold aus Kalkriese ist die gelungene kulinarische Umsetzung eins Münzfundes am Schauplatz der Varusschlacht im vergangenen Sommer, der in der gleichnamigen Ausstellung resultiert. Die Hochschule Osnabrück hat aus einer der Münzen per 3-D-Druck Silikonformen mit dem Konterfei des Befehlshabers Augustus für das La Vie erstellt, die Pâtissier Roman Aster für seine Pré-Dessert-Münze aus dehydriertem Karottensaft nutzt. Optisch und aromatisch sind Erde und Äste durch Schokolade, das darüber gewachsene Gras in Kräuterform und das Blutvergießen als Preiselbeere dargestellt. So geht kurzweiliger Geschichtsunterricht.Brachfeldfrüchte, ein wenig Kokosnuss, Karamell, Brotcrumble ist ein leichtes, wohlschmeckendes und intelligentes Dessert. Gemüse im Dessert überrascht wahrscheinlich nur noch verstockte Redundanzesser (© Onkel Jürgen) und eignet sich in vielen Konstellationen ausgezeichnet für die Pâtisserie, weil diverse Texturen, Aggregatzustände möglich sind, viele Gemüse einen natürlichen, subtilen Zuckergehalt mitbringen und einem Dessert einen entscheidenen aromatischen Twist geben können. Der Fokus liegt hier auf einer gewissen Erdigkeit, die gerade bei der Roten Bete mit ihren leichten Karamellnote sich im Karamell und den Malznoten des Brotes wiederfindet. Die Marschrichtung gen Dessert wird durch die kompakte Kokoszubereitung vorgegeben. 

Noch ein paar der feinen Petits fours genießen und ein Pralinen mit Yuzu- und Rote Bete-Geschmack aus dem Kaugummiautomaten ziehen, während der Kopf noch immer mit dem zuvor gegessenen Menü beschäftigt ist.

Auch Tage nach dem Besuch im La Vie  ist die Faszination noch präsent. Thomas Bühner löste sein Versprechen Innovation und Avantgarde ein. Er präsentiere in seinem großen Menü eine sehr intelligente und intellektuelle Küche, die in dieser Form – so arrogant und elitär das auch klingen mag – sicherlich nichts für Sterne-Novizen ist. Womit Bühner am meisten überraschte, ist die Kunst des Weglassens. Während es zuvor auf den bereits angesprochenen Fotos opulenter Teller erschien, als wolle ein Künstler die komplette Leinwand nutzen, sind es jetzt freihändige Skizzen, die auf dem Teller wie locker aus dem Ärmel geschüttelt erscheinen. Doch geht der Geschmacksfindung eine beachtliche Wegstrecke voraus. Thomas Bühner vertraute dazu für den Bereich Weiterentwicklung neben Küchenchef Timo Fritsche bis zuletzt einem eigens angestelltem Kreativ-Chef, dem Koreaner Hawan Jung, dessen Einfluss auf das Menü mit koreanischen Elementen, asiatischen Zubereitungen und einem gewissen Purismus. Es bleibt also interessant, wie es weitergeht.

Auf kleinstem Raum kommen die Gerichte, die hier und da mengenmäßig eventuell eine Nuance größer dimensioniert sein könnten auf den Punkt. Auffallend ist, dass Produktqualitäten und der natürliche Geschmack im Vordergrund stehen, aber, ausgenommen die Taube, keine Zutat dominiert, sondern das Zusammen- und Wechselspiel für Spannung sorgt. Das wirkt alles sehr feingliedrig, wozu umsichtige Würzung, der Verzicht auf starke Röstaromen und mangelnde Klischeeerfüllung beitragen.

Eine Rolle mag bei dieser offensichtlichen Änderung der Stilistik auch die Küchengarten im nahegelegenen Schloss Ippenburg und Bühners Mitwirken beim Food Lab Münster der dortigen FH spielen.

Die Weinbegleitung von Sommelier Christian Scholz dazu war ausgezeichnet. Es waren teilweise nicht die “größten” Gewächse, die er servierte und dennoch war seine Auswahl, gerade zu den explizit erwähnten Gängen, eine grandiose Ergänzung und kein Übertrumpfen der Speisen. So wie es sein soll. Kalkulatorisch wäre allerdings eine Auswahl von der feinen Weinkarte, die beste Auswahl und Jahrgangstiefe  bei deutschen Spitzenweinen und Bordeaux  zu überraschend günstigen Preisen bietet, opportun gewesen. Gerade bei den roten Franzosen spiegelt sich die Sammelleidenschaft Großmanns wider.

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