Pauly Saal, Berlin
Es gibt diese Restaurants, von denen man schon vorm Besuch eine gewisse Ahnung zu haben scheint. Beim Pauly Saal bezieht sich der Spoiler vor allem aufs Ambiente, Stichwort “Rakete”! So beginnt nahezu jeder Artikel über das Restaurant im Berliner Stadtteil Mitte mit der Beschreibung der Historie des Restaurants und heutigen Optik. So auch in einem Absatz hier.
Der Zugang zum Restaurant muss erst einmal gefunden werden. Das Restaurant teilt sich die Räumlichkeiten in einer ehemaligen jüdischen Mädchenschule mit anderen Mietern. Von außen kann höchstens auf Zehenspitzen stehend die an der Stirnseite wandbefestigte Rakete erblickt werden. Hinterm Eingangs wabert wirklich immer noch das Gefühl von Schule. Fast ist der Geruch von nassen Tafelschwämmen und Bohnerwachs greifbar. Elegant ist der Zugang zum Restaurant, der durch einen kleinen Barbereich führt. Die Dimensionen des Gastraums sind großzügig, hoch die Decken. Es ist die kleine Schulsporthalle, in der gerade einmal ein Völkerballfeld Platz gefunden haben dürfte. Eingangs zur Rechten, unter der Rakete, dort wo Medizinbälle, Stufenbarren und Böcke einst untergebracht gewesen sein könnten, liegt die Küche, die im Brust bis Kopfbereich Einblick in das Schaffen der vielen Köche offenbart.
Warum sind die Dimensionen an dieser Stelle wichtig? Weil die Erwartung die eines Riesenrestaurants war. Die Restaurantfotos, offenbar von der Fenster-Straßenseite aus erhöhter Position Richtung Wandrakete aufgenommen, ließen den Eindruck eines riesigen Speisesaals entstehen. Doch auch Erzählungen führten in Kombination mit den Fakten zur Erwartung ungemütlicher, unpersönlicher Großabspeisung. Ein törichter Trugschluss. Im Pauly Saal ist es gemütlich, wohnlich und das Design mit samtig grünen Sitzgelegenheiten und der richtigen Dosis Patina zeitlos. Und doch finden bis zu 80 Personen Platz.
Zur Eröffnung und eine Zeit danach machte sich das Restaurant rasch einen Namen als Lunch-Location, wozu neben der hellen, freundlichen Atmosphäre mit Tageslicht Menü-Kampfpreise gegen die unendliche Konkurrenzkampf in der Haupstadt verantwortlich waren. Waren. Denn diese Maßnahmen werden mittlerweile von den Betreibern (Grill Royal, Kin Dee) nicht mehr gebraucht. Mittags wird das identische Menü wie abends zu gleichen Konditionen geschickt und ist nur in kleinerer Gänge-Anzahl bestellbar. Mit dem Erfolg des Pauly Saals ist seit zweieinhalb Jahren ein Name verbunden, der, wenn man sich mit der Biographie des Küchenchefs Arne Anker beschäftigt, andere, kulinarische Vorahnungen aufkeimen lässt. Arne Anker ist ein junger, freundlicher Küchenchef. Brille, die lockigen Haare in adretter Frisur, ein Lächeln auf den Lippen. Für den 32-Jährigen dürften seine Stationen als Souschef in Sergio Hermans “Oud Sluis” und im “The Jane” von immenser Bedeutung sein. Nicht nur für den Küchenstil, sondern auch wie man konsequent ein großes Team führt. Der Vollständigkeit halber: Der Pauly Saal ist mit einem Stern im Guide Michelin ausgezeichnet und Arne Anker wurde im Gusto “Koch des Jahres 2018” und erreicht sensationelle neun Pfannen, während der GaultMillau im Halbschlaf im aktuellen Führer von 15 auf 16 Punkte aufgewertet hat.
Los geht es mit einer schnellen Abfolge von äußerst appetitanregenden Kleinigkeiten. Punktgenau angesiedelt zwischen verspielt und präzise, sind die Apéros beziehungsweise Amuse-Gueules nicht sättigend und mit der richtigen Dosis Intensität ausgestattet. Das filigran-lufitge Gebäck mit Romesco-Crème – die pikante Sauce aus Katalonien gab es in letzter Zeit häufiger – und Hüttenkäse überzeugt mit ausgewogenem Paprika-Wumms und dem säuerlichen Mundgefühl des Milchprodukts. Eine Variation von der Miesmuschel besteht aus Sellerie und Muschelchip und ist bei fischigen und weinigen Anklängen sehr elegant. Eine gekochte Karotte – das klingt zu simpel, bestimmt wurde sie Sous-vide gegart, dehydriert und wieder reanimiert – toppen Kokospulver und Nussknusper. Der Geschmack changiert zwischen säuerlich und pikant. Bei der Rote Bete-Variation wird das Fuchsschwanzgewächs einmal mit Ziegenkäse und Kirsche serviert, zum anderen als Cremeux mit Rote Bete-Pulver. Der Eindruck hier ist kühl und säuerlich, nicht allzu süß und daher wirkt der Abschluss erfrischend, geradzu klärend vorbereitend auf den Menüauftakt.Bei Garnele, Rettich, Algen, Seefenchel ließe sich das Menü mit einem Kaviar-Supplement noch luxustechnisch pimpen. Zum kulinarischen Aufwerten braucht es den Störrogen tendenziell nicht. Die erste Vorspeise schmeckt schon so wunderbar schmeckt und die jodige Salzigkeit könnte durchaus die Nuancen aus dem Gleichgewicht bringen. Die mit Zitrus gebeizten Garnelen sind nicht unbedingt Hauptdarsteller, vielmehr das Gemüse. Das alles befindet sich in einer hochmodernen, vielschichtigen Zusammenstellung in der Schüssel. Es geht knackig zu, mit deutlich grün-pflanzlichen Akzenten. Die angenehme Säure ist animierend und doch wirkt alles durch eine Mayo und die Sauce – der Geschmack erinnert entfernt an Cocktailsauce – extrem süffig. Großer Spaß.Bei Kohlrabi, Gurke, Amarant und Harissa sollte es doch die zusätzlich offerierte Langoustine sein. Wie Arne Anker später verrät, auch eines seiner Lieblingsprodukte aus dem Wasser. Er kaufe nur begrenzte Mengen für die Zusatzoption ein, “wenn weg, dann weg”. Wo könnte da das Signum des Küchenchefs bessere Verwendung finden als bei diesem fulminanten Gang, der die gleiche Strahlkraft auch ohne Krustentier entwickelt hätte. Bei diesem Spiel der Texturen knüpft an eine gebrannte, gegrillte Scheibe Kohlrabi geschmacklich und texturell Gurke an. Eine knoblauchige Crème hält die Gemüsebestandteile zusammen, die auf einem Sockel minimal süßlichen, kompottartigen Gemüse-Tatars liegen, von dem Anklänge an Omas Gurkensalat ausgehen. Mit der scharfen nordafrikanischen Würzpaste entsteht ein Geschmack, der ein Aromenspektrum von Griechenland bis Orient bietet. Herrlich.Mit Aal, Schwarzwurzel, Zwiebel, Liebstöckel folgt den zuvor eher fröhlichen Tönen ein Geschmacksbild in Moll. Tieftönig, dunkel, melancholisch. Der Aal stammt aus der Havel und hat nach dem Räuchern in der Pauly Saal-Küche die gelungenste aller möglichen Konsistenzen erreicht: gleichzeitig fest und saftig. Die Zwiebel wird gepickelt, geflämmt, getrocknet und gebacken dekliniert. Liebstöckel – noch so eine Zutat, die wieder häufiger verwendet wird – hält mit seinem sehr spezifischen scharf-bitteren Geschmack die Spannung hoch. New Nordic Cuisine trifft auf die neue niederländische Schule trifft Berliner Nova Regio. Ohne Manifest – mit Geschmack.Bei Topinambur, Bacalhau, Pumpernickel, Bier setzt Arne Anker dem Gang zuvor noch einen drauf. Über dem Teller liegt der Geruch von Maische. Und die entschiedene Andersartigkeit geht weiter. Der Eindruck im Mund wechselt zwischen sämig, sogar ein wenig zäh und knackig, der Geschmack ist würzig, umami und eben andersartig. Hier sorgt Pimpinelle für ungeheure Spannung – Kräuter werden hier also mit Bedacht und nicht aus optischen Gründen eingesetzt. Der süßsäuerliche Pumpernickel und die herben Noten des Bier spielen sich gerade auf malziger Ebene die Bälle hin und her. Der Stockfisch sorgt für Konsistenz und Würze, er ist Zutat, nicht Mittelpunkt. Stark.
Eine “gefährliche” Kombination von Zitrone und Haselnuss wie bei Dorsch, Haferwurzel, Zitrone, Haselnuss könnte schnell fiese Noten – einfach mal zuhause ausprobieren – erreichen. Hier nicht, denn das Bindeglied bei dieser Deklination von Haferwurzel ist wiederholt die gemeine Zwiebel, hier im Gemüsetatar. Dass dem Ganzen ein saftiges, gebratenes Stück Fisch zur Seite gestellt ist, passt, da das süßlich-milchige Wurzelgemüse den Namen Austernpflanze nicht zu Unrecht trägt. Nicht so spektakulär wie die beiden Gänge zuvor, doch sehr gut.
Grund zu Feiern ist bei Rinderfilet, Aubergine, Miso, Pastinake schon allein die Garung des exzellentes Fleisches. Das Fleisch ist ganz knapp über roh gegart und hat kaum überdeckende Röstaromen abbekommen. Gutes Fleisch braucht keine heftige Kruste, keine Maillard-Reaktion am Limit. Diesen Bratgeschmack übernimmt eher die geschmurgelte Aubergine, die mit fleischiger Textur das Gegenstück zum Filet ist – für einen vegetarischen Teller könnte also das Fleisch in dem hervorragendem Gemüse-Kontext entfallen und die Sauce eine Pilzreduktion sein. Überhaupt die Sauce: Arne Anker gelingt hier mit seiner mehrfach angesetzten Basis der goldene Mittelweg aus Tiefe und Konsistenz sowie Geschmack und Transparenz.Wunderbar das abschließende Dessert aus Quitte, Mirabelle, Verbene, Schokolade. Verbeneis, Quittenmousse, eingelegte Mirabelle, dazu ein herb, stumpfes Kraut und ein säuerliches Kraut: Das Ergebnis der Teile ist von mittlerer Süße, geschmacklich komplex und unkompliziert und erfrischend zu essen.
Wenngleich die Kapazität nach dem leichten, frischen Dessert noch ein zweites zuließe, reicht es. Die Sättigung ist nach einem Mittagessen mit dem kompletten Menü mehr als ausreichend, doch angenehm. Die Petits Fours – warum wird eigentlich der passendere Begriff Friandise seltener verwendet? –, eine Kirschvariation mit Kräutergranité, eine eiskalte Praline und türkischer Nougat – verschwinden blitzschnell.
Arne Anker setzt auf Gemüse. In vielen Fällen ist es saisonaler Hauptdarsteller, Die Gerichte sind hochkomplex in ihrer Zubereitung und ihrem Aufbau. Wer jetzt proklamiert “Ich mag’s am liebsten ohne viel Chichi!”, hat über Schnitzel mit Pommes rein gar nichts verstanden. Denn der Aufwand, der hier im Pauly Saal unbestritten betrieben wird, ist zum Wohle des Gastes. Denn der kann am Ende essen, wie er will. Man kann nichts falsch machen, es läßt sich genießen, aber auch darüber philiosophieren. Spielerisch führt der Weg zu Tiefe und findet beim Dessert seine Katharsis. Die Dramaturgie verläuft von Fröhlichkeit zu, jahreszeitlich passend, Melancholie, ohne abgrundtief zu enden. So wie ein wohlig guter Song. Neben durchaus regionalen Zutaten und Saisonalität geht es viel um Mundgefühl. Serviert wird eine komplexe, moderne Küche, die neue Seiten ausleuchtet – ohne zu verstören, doch um zu verführen. Sicherlich sieht und schmeckt man an einigen Stellen den Übervater der zeitgenössischen niederländischen Küche, und doch wirken die Gerichte sehr eigenständig.
Zu diesen pathetischen, den Notizen entnommenen Worten, haben auch Teile der Weinbegleitung von Sommelier Florian Seufer-Wasserthal beigetragen, der Domaine L’Orizon Blanc 2012, den großartigen Weißburgunder 2015 von Lichtenberger González – Martin Lichtenberger ist Kellermeister von Gernot Heinrich – aus dem Burgenland und “Terrasses du Larzac” von Mas Julien aus 2009 servierte.