Restaurants

Tulus Lotrek, Berlin

Er: “Aufsteiger des Jahres” der “Berliner Meisterköche 2016”. Sie: “Berliner Gastgeber 2017” der “Berliner Meisterköche 2017”. Er: Harems-Jogginghose, Lederboots, Dreitagebart und Strickmütze. Könnte glatt als Berliner, Typ Küchenhipster, durchgehen. Kommt aber aus Sinzig im Ahrtal – von Berlin vielleicht nur die geographischen 480 Kilometer Luftlinie entfernt. Zum Reden bewegt, blitzten die Augen hinter der dicken Brille. Sie: Kommt aus Schwaben, aus der Nähe von Heilbronn. Die Haare sind zum Pferdeschwanz nach hinten gebunden, wenig Make-up ist aufgelegt und das Kleid hat ein florales Muster. Geht beim Gast am Tisch in die Hocke auf Augenhöhe. Erklärt, hört zu und empfiehlt. Ilona Scholl und Max Strohe sind ein Paar wie es aneinander in Berlin, in der Gastronomie, findet. Zwei, die sich unterscheiden und doch eine gemeinsame Mission haben. Vor zwei Jahren eröffneten sie ihr Restaurant Tulus Lotrek. Er kann in der Küche tüfteln und sie im Gastraum ihren Charme spielen lassen. Das passt zur Wohlfühlatmosphäre im Restaurant Tulus Lotrek in Kreuzberg. Raffiniert aufs Wesentliche inszenierte Gemütlichkeit ohne Szene-Attitüde, fernab von Mädchenblogger-Style. Wie ein Studenten-Kiez-Lokal, hohe Altbaudecken mit Stuck, hell verputzte Wände mit grüner Holzbordüre, Dielenböden und Mobiliar aus Holz. Ein paar Farbtupfer lockern optisch auf. Die Tapete hat das gleiche Blumenmuster wie das Kleid der Gastgeberin.

Ein Farbtupfer der kulinarische Beginn. Die Signalfarbe lässt als erstes beim süßlich Kalbsblut-Macaron mit Cassis-Buttercrème und gepoppten Quinoa zugreifen. Als nächstes das Schüsselchen röscher Fischhaut mit Karottenreduktion, das auf einem Becher liegt. Zu süß, zu fischig? Die formidable Hühnerbrühe fegt das mit ihrem Geschmack à la Oma weg. Dazu Sauerteigbrot mit Salzbutter aus der Normandie, der Joghurt-Pulver eine feine Säure verleiht.Bei Makrele mit Apfel und Alge ist der Fisch an diesem Abend aus Verfügbarkeits- und Qualitätsgründen Kingfisch. Das Beizen und anschließende Bad in einer Ceviche-Marinade, also einer Art leche de tigre, funktioniert auch mit dem festeren Fleisch der Gelbschwanzmakrele. Eine ordentliche Portion birgt beinahe etwas zu viel des bissfesten Fischs. Doch es schmeckt sehr gut: Das Zusammenspiel aus der grünen Jodigkeit von Austernkraut, Salicornes, Salty Finger und Pulver von Wakame Alge funktioniert gut mit den Tupfern von Apfelgel, Essiggurke und Crème fraîche, In dieser leicht scharfen – Anklänge von Sweet Chili Sauce stammen von Holunderblütensirup und Chili – und säuerlichen Mischung irritiert das Milchprodukt für einen Moment beim Mundgefühl, nimmt dann der Kombination das Schroffe. Wunderbar dazu passt der Drink aus Gurke, selbst hergestelltem Kümmel, Eischnee fürs Mundgefühl und Dillblüte.Beim Teller mit dehydrierter Tomate mit Vinaigrette von verbranntem Lauch duftet es angenehm nach leicht verkohltem Pizzateigrand. Es geht sehr natürlich zu. Der Fokus bei der Tomate liegt mehr auf Aroma und Säure als auf der möglichen, gelernten Erwartungshaltung Süße. Wunderbar seidig harmoniert dazu der ölig-butterige Sud aus Wassermelone, Tomate und Lauch. Die Wirkung des feinen französischen Estragons ist nicht zu unterschätzen. Dessen Anis-Aroma dockt an die Röstnöten an. Bei diesem vegetarischen Gang mischt sich wunderbar food pairing-Feinheit mit rustikaler Eindeutigkeit.

Außen knusprig und innen ganz weich, dazu ein bisschen süßlich: Kalbsbries ist die Konsensinnerei der Stunde. Ein unheimlich tolles, aromatisches Produkt, in der Zubereitung allerdings relativ festgelegt. Daran rüttelt Max Strohe nur ein wenig. Er paniert die Wachstumsdrüse bei seinem Herzbries mit Crottin de Chavignol und Sauerampfer in Semola, dem gegenüber Mehl derberen Hartweizengries – es gerät beim Braten in Nussbutter knuspriger. Der Küchenchef setzt dem Wohlgefallen kräftige Antagonisten entgegen. Beim Kauen macht sich nach dem üblichen erwartbaren Geschmack die Schärfe des Ziegenkäses bemerkbar. Kühl erlösend greift die dünnflüssige, stumpf grüne Sauce aus entsaftetem Sauerampfer und Apfel ein. Erst ein wenig von der Ziegenkäsecrème, getoppt von Rauchöl und Oxalis,  verbindet das Ganze zu einer Köstlichkeit zwischen einschmeichelnd und aufregend.

Ist ja schon ein wenig witzig, wenn ein noch eingeschobener Gang aus dem vegetarischen Menü Kartoffelpüree mit Soße heißt. In dieser Form wurde Vegetariern, sagen wir vor zehn, fünfzehn Jahren noch fleischloses Essen serviert. Die Küche ließ bei einem Gericht einfach den vermeintlichen Hauptdarsteller weg. Muss man nicht drüber diskutieren. Eher darüber, dass die Mischung aus Kartoffelpüree und Sauce schon beim Sonntagsessen toll war. Dieses Vermanschte, das blieb, nachdem man sich als Kind das Gemüse reingequält hatte und das Fleisch viel zu schnell aufgegessen war. Dieser Gang ist auch im Tulus Lotrek schlotzig, wuchtig und lecker. Und kein Hexenwerk, wenngleich auf zauberhafte Weise kein Fleisch fehlt: Die Kartoffeln der Sorte Linda stammen von Berlins Kult-Gärtnerin Grete Peschken – bekannt aus der “Markthalle Neun” und dem “Nobelhart & Schmutzig”. Sie wurden für zwölf Stunden in die Milch eingelegt, die später fürs Püree verwendet wird. Dazu zwei gebratene Stücke Steinpilz und eine Sauce auf Pilzbasis zum Reinlegen und Nachschenken. Hüftgold auch ohne Fleisch!

Ebenso zum Reinöffeln und dabei noch eine Nummer spannender folgt Jakobsmuschel mit Steinpilzen. Eine Art Dashi aus Steinpilzpulver und -abschnitten hat die Küche mit fast verbrannter Butter emulgiert. Das hat Wumms, mit dem die scharf angebratenen Muscheln aus Dänemark mithalten können. Die liegen auf einer Konfitüre von Steinpilzen und grünem Pfeffer. Kurz der Gedanke, dass Steinpilzstücke en nature nicht schlecht wären, doch könnten sie mit ihrer Textur das ausgewogene Verhältnis aus weichem Biss und Cremigkeit stören. 

Das Wild bei Hirsch mit Schwarzwurzel, Kirschblüte und Mohn stammt aus Brandenburg. Macht hier keiner viel Aufhebens drum. “Geiles Hauptprodukt, Sauce und was sonst noch passt”, das trifft auf das ordentliche Stück mit intensivem Wildgeschmack zu. Die gute Sauce ist mit Kirschblüte aromatisiert, sie verströmt würzig-weihnachtliche Anklänge. Die Schwarzwurzel ist mit einer Mischung aus Artischocke und Crème fraiche gefüllt, darüber ist getrocknete Hirschleber gerieben.

Die Schüssel mit Blauschimmel, Zwetschge und Trompetenpilz mutet optisch nordisch an. Wie Gerichte im Maaemo, das wir zusammen – full disclosure an dieser Stelle – in einer verrückten Gruppe im Mai besuchten. Rein optisch, denn konzeptionell und geschmacklich hat das damit nix zu tun. Hier herrscht Mut zum Geschmack. Die Zusammenstellung aus in Kardamom und Zimt eingelegte Zwetschgen, Kakoaobohne, Lakrtitz, Laktritztagetes und Fichtensprosse wirkt auf dem Papier wild. Doch gelingt: Ein mit natürlichen Mitteln hochgradig spannender und origineller Käsegang.

Max Strohe ist ein guter Handwerker, aber kein Filigrantechniker. Der Straßenfußballer im Küchenkontext. Ein Geschmackskoch, ein Bauchkoch. Das führt zu Tellern, die weniger kunstvoll, denn pragmatisch aussehen. Gut so, denn ansonsten hätte sich bei Buttermilcheis mit entsafteter Rote Bete & Meringue aus gefriergetrocknetem Joghurt kein stimmiges, verzehrfreudiges, animieriend köstliches Dessert ergeben. Mehr braucht es nicht, weniger geht kaum.

Berlin ist voller Restaurantkonzepte. Französisch, international, ethnisch, regional bis “brutal lokal”. Da kann man doch einfach mal eine Küche machen, bei der gekocht wird, worauf man Lust hat, scheinen sich Ilona Scholl und Max Strohe gedacht zu haben. Unprätentiös und unkompliziert und doch aromatisch komplex. Nicht holzschnittartig, doch wohltuend deftig. Gemüse, Fleisch, von hier von dort. Es fehlt die Schnodderigkeit des im eigenen Mikrokosmos weltverbessernden Hipstertum. Der Erklärung des Drumherums zum Konzept. Hier herrscht Substanz ohne albernen Erklärtanz.

Substanziell machen die Gerichte auch Butter, Sahne oder Crème fraîche. Es geht also lustvoll zu, aromatisch verdichtet, mutig munter, immer den Geschmack vor Augen. Die Teller wirken in ihrer Übersichtlichkeit und dem Nutzen von Alternativen zu klassischen Saucen nordisch konzipiert, doch es geht keineswegs freudlos karg zu. Das Tulus Lotrek könnte der missing link zwischen all dem sein, was man mag und was man zeitgeistig meint, essen zu müssen. Allzu starke Anklänge an Bekanntes mögen auch fehlen, da Max Strohe nicht die typische Karriere in Küchen der Spitzenküche hinter sich hat. Dazu serviert die Gastgeberin Weine, die mehr umspielen und unterstützen als zu dominieren. Dabei ist sie ebenfalls nur auf Geschmacksmission.

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